2019 Vokalensemble Zeitenwende
November 1918 in Lörrach: Nach vier Jahren Krieg dankt der Kaiser im fernen Berlin ab, es gibt endlich einen Waffenstillstand und der Sozialdemokrat Friedrich Ebert wird Reichskanzler. Ein anderes Leben scheint für viele möglich, mit mehr Beteiligung an politischen Entscheidungen, mehr Einflussmöglichkeiten auf die eigenen Arbeitsbedingungen, mit mehr Freiheit im Privatleben. Was während der Weimarer Republik vor 100 Jahren an Veränderungen angestoßen wurde, war nicht bei allen willkommen und wirkt zugleich bis in die Gegenwart.
Als Musiker*innen und Theaterleute interessiert uns vor allem das kulturelle Treiben von damals und mit dieser unserer neuen Produktion fragen wir danach, wie sich Alltagsleben, Politik und Gesellschaft dieser Zeit in Kunst und Musik widerspiegeln und auch wie diese auf die gesamtgesellschaftlichen Ereignisse reagieren. Daraus ergaben sich für uns zwei Herangehensweisen, die sich bereits bei unserem ersten lokalhistorischen Musiktheaterprojekt „Im Übrigen war der Abend der Musik gewidmet“ 2014 als sehr fruchtbar erwiesen hatten.
Zum einen gehen wir der Frage nach, was in dieser Zeit zwischen dem Ende des ersten Weltkriegs 1918 und den Reichstagswahlen 1930 in Lörrach zu welchem Anlass gesungen, rezitiert und aufgeführt wurde. Als Quelle und Fundus diente uns hierfür in erster Linie der Nachlass des damaligen Musikdirektors Albert Hitzig.
Zum anderen setzen wir ausgewählte Aktenberichte aus dem Lörracher Stadtarchiv sowie Meldungen aus Lörracher Lokalzeitungen, welche hiesige Ereignisse und gesamtgesellschaftliche Entwicklungen betreffen, in Beziehung zu Liedern und Werken, die nicht spezifisch für Lörrach stehen, sondern vielmehr einen bestimmten Zeitgeist der Weimarer Republik abbilden und auf ihre Weise Momente deutscher Geschichte erzählen.
Die Durchsicht der sieben Bände aus Albert Hitzigs Nachlass, in denen er chronologisch von 1912 bis 1935 Konzert- und Theaterprogramme und dazugehörige Zeitungsartikel sammelte, machte deutlich, dass nach dem Ende des 1. Weltkrieges nicht nur die Zahl der Konzerte erheblich zunahm (Hitzig hatte auch während des Krieges viele Konzerte in Lörrach organisiert), sondern dass im Lauf des Jahrzehnts auch das Angebot vielfältiger wurde: Es gab sehr viele kammermusikalische Abende, die auch im Abonnement als Kammermusikreihe oder Volkskonzerte angeboten wurden, Symphoniekonzerte, Konzerte mit Chören, Musikvereinen und schließlich, nachdem 1923 die baulichen Voraussetzungen geschaffen waren, auch Gastspiele v.a. der Basler und Freiburger Bühnen mit kleinen Opern, Operetten, Theaterstücken. Und es gab sogenannte „Buntbühnenabende“, Abende mit Ausdruckstanz und Volkstheater. Viele der musikalischen Werke, die gespielt wurden, sind heute nicht mehr bekannt und es gelang uns nicht, die Noten dazu aufzufinden, andere wiederum sind auch heute noch gängiges Repertoire. Neben der kompakten Sammlung von Hitzig boten auch die Lokalzeitungen Hinweise auf kulturelle Ereignisse aller möglichen Richtungen, so fand sich fast in jeder Zeitung das aktuelle Kinoprogramm, Gaststätten veranstalteten Variété- und Tanzabende, Vereine kündigten ihre Feste an, es wurde für Vorträge zu verschiedensten Themen geworben.
Bei dem Versuch, unser Programm gleichwohl unterhaltsam wie auch informativ und der Komplexität der Epoche angemessen zu gestalten, bleiben unvermeidbar blinde Flecken, Ereignisse, die wir nicht erwähnen, Lieder oder Kunstrichtungen, denen wir keinen Platz einräumen, aufschlussreiche Pressemeldungen von damals, die nicht Eingang in unser Skript fanden. An vorderster Stelle stand das Bemühen darum, diese bewegende Zeitenwende in ihrer Vielschichtigkeit, Widersprüchlichkeit und Gleichzeitigkeit ein Stück weit spürbar und hörbar zu machen.
Ein herzliches Dankeschön für ihre große Unterstützung gehen an Markus Moehring und Tobias Hebel vom Dreiländermuseum Lörrach, an Hubert Bernnat, an Andreas Lauble, Jürgen Schaser und Johann Löwen vom Stadtarchiv Lörrach, sowie an Sarah Czerwenka vom Fachbereich Medien der Stadt Lörrach.
Leitung: Susanne Hagen, Ursula Müller-Riether, Tim Krause